Diebstahl

ein Lebtag habe ich noch nichts gestohlen, heute ist das erste Mal. Ich laufe zum Bus, der mich zur U-Bahn bringen soll. In der Plastiktüte an meiner Hand dümpelt eine Langspielplatte.
‚Ich weiß nicht, wer du bist in deiner Haut, ich hab nur auf den Augenblick vertraut’.
Verdammt, wie konnte ausgerechnet mir das passieren?

Er lud mich zum Essen ein, Sauerbraten und Klöße wollte er kochen. Ich kenne ihn vom Schreiben über ICQ, vom Chatten, einmal habe ich ihn persönlich getroffen. Er wollte mir alte PC-Teile schenken. Ein Freund fuhr mich hin und wir wurden überrascht. Im Wohnzimmer war der Tisch gedeckt – neben trockenem Weißwein und einer Karaffe Wasser stand ein Teller mit Häppchen.
“Setzt euch, setzt euch, möchtet ihr vielleicht etwas anderes? Kaffee?”
Diese nicht erwartete Gastfreundschaft ließ uns viel länger verweilen, als wir geplant hatten. Stunden später im Auto zog mein Freund nachdenklich ein Resümee: „Ein interessanter Mensch. Er scheint sehr einsam zu sein, er wollte uns nicht mehr fortlassen“.
Auf mich wirkte er recht sympathisch, aber trotz aller Beredsamkeit etwas scheu.

 

“Na, komm rein.“ Seine Stimme klingt durch die Sprechanlage leise und belegt. Einen Augenblick zögere ich. Wie wird es werden? Mir ist ein wenig beklommen zumute, ach egal, ich bin groß und erwachsen und er auch.
Die Tür steht halb offen, im Hintergrund singt eine mir unbekannte Band: ‚Ich weiß nicht, wer du bist’.
Ich denke, das trifft es.
Er schaut mit gerötetem Gesicht aus der Küche: „Komm doch herein, ich koche noch.“
Es klingt euphorisch, wie er mir detailliert berichtet, wie und wo er die Zutaten gekauft hat.
„Als ehemalige Rheinländerin weißt du doch sicherlich einen guten Sauerbraten zu schätzen. Wie schön, dass du da bist. Meinst du das Essen reicht? Ich habe ja schon gekostet.“
Wir stehen in seiner Küche, reden Belangloses. Ich merke, dass er nicht mehr nüchtern ist, dass er fast die Töpfe vom Herd reißt. Oh shit, denke ich. In seinem Eifer tut er mir Leid. Abwarten! Ich frag mich, warum er so aufgeregt ist, möchte ihm sagen, hey, ich bin’s doch nur.
Er sprüht vor Ideen: “Weißt du, ich werde ein neues Projekt machen, habe eine Reise geplant, schau dir gleich auf dem Computer an, was ich geschrieben habe. Die arabischen Länder werden der Reisemarkt der Zukunft sein.”
Er redet, es fließt aus ihm heraus. Ich kann nur bewundernd zuhören, ab und an genervt dreinschauen, mal den Topf vor dem Runterfallen retten, mal die Flasche Wein, aus der er großzügig eingießt.
“Hier trink, Mädchen, habe extra guten Wein gekauft, ach ein bisschen davon in die Sauerbratensoße, probier mal, schmeckt das nicht gut?”
Ich denke mir, warte ab. Er reicht mir einen Probierteller, auf dem ein seltsam grauer Kartoffelkloß in Soße schwimmt.
“Der sollte eigentlich nach dem Rezept meiner Mutter werden, ist nun aber doch aus der Tüte, weil ich die Zeit nicht hatte, alles ordentlich vorzubereiten. Ist das okay?” Besorgt sieht er mich an, gibt verschwenderisch in Weinsoße gegarten Sauerbraten zu dem Kloß auf meinem Teller. Während ich koste, eilt er immer wieder ins Wohnzimmer und spielt diese Platte. ‚Ich weiß nicht, wer du bist.’
Nachdem wir die zweite Scheibe Braten im Stehen gekostet haben, zieht er zwei Teller aus dem Regal hervor. Ich breche in Lachen aus: “Du willst doch nicht wirklich noch im Wohnzimmer essen?”
Er erwidert mein Lachen und sieht mich zum ersten Mal richtig an.

Irgendwann landen wir tatsächlich im Wohnzimmer.
“Liebe Kathi, wie versprochen, nun gibt es die Musikshow, ich habe extra den Plattenspieler repariert.”
Er mimt den Confèrencier und ja, er hat was drauf, absolut geile Rockmusik aus den 70ern bis 90ern und dann: „echte“ Koblenzer Musik … die unbekannte Band von vorhin. Er gestikuliert wild: “Das hättest du nicht erwartet, nicht wahr? Hör, es dir an.”
Hat er da mitgespielt, fast scheint es so.
“In Koblenz, ja, da haben wir früher richtig was losgemacht, das hätte dir gefallen.”
‚Ich weiß nicht, wer du bist in deiner Haut, ich hab nur auf den Augenblick vertraut’.
Der Text bannt mich, ich weiß, wer ich bin, aber wer bist du?
Er taumelt zur Musikanlage, torkelt gegen die Heizung, zieht sich daran wieder hoch und lächelt verschmitzt.
Eigentlich hasse ich Alkis, mir wird übel, wenn Leute bis zur Besinnungslosigkeit trinken. Warum toleriere ich das bei ihm? Toleriere ich es überhaupt? Warum zieht mich der Song in einen Bann, aber ihm sehe ich eher teilnahmslos zu? Hatte er Angst vor meinem Besuch und deswegen schon vorher getrunken?
Ich sage: „Weißt du was, ich geh gleich heim. Du kannst dich ausschlafen und später reden wir mal.“
Unbeteiligt sehe ich zu, wie er fast hinfällt, als er eine neue Platte auflegen will. Dann blinzelt er mich listig an: “Ich spiele dir mal geile Musik vor.” ‚Ich weiß nicht, wer du bist’.
Ich sage: „Die kenne ich doch, die lief heut schon so oft. Pass auf, die LP klaue ich dir gleich.“
Er grinst: „Doch nicht du!“
Er schenkt mir ein, ich lache: „Du schaffst es eh nicht, meinen Level dem deinen anzugleichen.“
„Wie meinst du das?“
Ich frage ihn sehr direkt: “Warum hast du so viel getrunken, bevor ich kam? Das war mindestens eine Flasche Wein.”
Verunsichert schaut er mich an: “Stört dich das sehr?”
„Ja, sicher, was denkst denn du?“
Eine kurze Zeit sinniert er, hält sich am Sessel fest: „Und nun, verabscheust du mich?“
Meine Antwort überrascht mich selbst: „Blödsinn, spiel mir noch einmal diese LP vor.“
Er hält sich an den Möbeln fest, erwidert zögernd mein Lächeln, tastet sich vor zum Plattenspieler, der in der Ecke steht.
Ich ertappe mich dabei ihm zuzusehen, wie er versucht, das Gleichgewicht zu halten.
Dann vergesse ich ihn. ‚Ich weiß nicht, wer du bist in deiner Haut’. Ich schließe die Augen und fühle mich schwebend, versinke in Rhythmus und Text.

Als das Lied endet und ich aus meinen Gedanken erwache, liegt er schlafend auf dem Teppich, den Kopf an einen Sessel gelehnt. Fünf Minuten sitze ich da, beobachte ihn. Langsam stehe ich auf, nehme die LP vom Plattenteller, hole im Flur eine Plastiktüte, stecke sie hinein und gehe noch mal zu ihm zurück.
Er liegt dort, schläft tief und fest seinen Trunkenheitsschlaf. Zaudernd betrachte ich ihn eine Weile. Dann ziehe ich meine Jacke an und verlasse die Wohnung. Auf dem Weg zur Bushaltestelle rinnen mir vereinzelte Tränen über die Wangen. Teilnahmslos wische ich sie fort. ‚Ich weiß nicht, wer du bist in deiner Haut.’

Nun sitze ich hier, die Tüte mit der LP neben mir, in meinem Kopf verheddern sich die Gedanken. ‚Ich weiß nicht, wer du bist in deiner Haut, ich hab nur auf den Augenblick vertraut’…

Montag kaufe ich mir einen Plattenspieler.

About Sternenstaub

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